Stephan Grünewald: Der Verbraucher schreit nach Heimat

von Gastbeitrag

Gerade in haltlosen Zeiten müssen sich Marken öffnen, ohne ihre Identität zu verlieren. Die Marken leben von ihrem emotionalen Mehrwert und vermitteln Sinn und Inspiration. Marken stehen heute vor neuen Herausforderungen, denn der Verbraucher hat sich im neuen Jahrtausend drastisch gewandelt.

Niemals zuvor hat er sich gleichzeitig so allmächtig und doch so ohnmächtig gefühlt wie heute. Seine neue Allmacht begründet sich vor allem in seinen Zugriffs- und Kommunikationsmöglichkeiten im Web 2.0. Der Verbraucher erlebt sich nicht nur als Empfänger, sondern auch als Akteur. Er kann im direkten Austausch mit der Marke Entwicklungen anstoßen. Die sozialen Networks sind zu Innovations- und Kontakt­foren auch für Marken geworden. Aber auch zu einem intersozialen Gerichtshof, in dem auch Marken gnadenlos abgestraft werden können. Das Internet ist so mit der mythischen Hoffnung verbunden, in die Davids-Position zu geraten: Man kann jeden Marken-Goliath zu Fall bringen, wenn er die erwarteten Produkt- oder Serviceleistungen nicht erfüllt.

Zwischen Ohnmacht und Allmacht
Aber der Verbraucher fühlt sich heute auch so ohnmächtig wie nie zuvor: erst die einstürzenden Hochhäuser am 11. September, dann die schwarzen Löcher der Finanzkrise, in der nicht nur Immobilien und Banken, sondern auch ganze Staaten verschwinden können, und nun der explodierende Reaktor in Fukushima. All diese Ereignisse versinnbildlichen einen drohenden Zustand persönlicher Handlungsunfähigkeit. Die Welt ist unberechenbarer und explosiver geworden. Die Angst vor einem kränkenden Ausgeliefertsein grundiert derzeit - trotz des konjunkturellen Aufschwungs - die Befindlichkeit der Verbraucher.

Von daher ist es derzeit eine der wichtigsten strategischen Aufgaben der Marke, dem Nutzer wieder das Gefühl von Handlungsfähigkeit zu vermitteln. Ein Beispiel dafür liefert die Obi-Werbung. Sie zeigt, wie man durch das eigene Strahlen mit einem Hochdruckreiniger wieder zu einem strahlenden Gewinner werden kann. Besser kann man die Ängste der Verbraucher vor den unfassbaren radioaktiven Strahlen und Bedrohungen nicht aufgreifen und ihnen das Gefühl geben, zumindest im eigenen Reich jederzeit Herr der Lage zu bleiben.

Bereits nach der Finanzkrise hat Hornbach erfolgreich durch seine ebenso mutigen wie tatendurstigen Projektkampagnen die Lust der Deutschen am Werkeln geweckt und ihnen damit das Gefühl souveräner Wirkmacht in un­sicheren Zeiten vermittelt. Aber nicht nur in der Werbung, auch in der direkten Kommunikation mit der Marke wollen sich die Verbraucher als Souverän erleben. Die Marke soll sich ihnen in allen möglichen Kommunikationskanälen öffnen und auf ihre Anliegen oder Beschwerden reagieren. Kontaktflächen im Internet, die dem Kunden einen schnellen Zugriff und ein promptes Feedback garantieren, sind ebenso wichtig wie erreichbare Hotlines im Festnetz mit kompetenten und vor allem freundlichen Ansprechpartnern. Die geforderte Öffnung der Marke und ihr multimedialer Dialog mit dem Kunden dürfen aber nicht in eine kommunikative Beliebigkeit führen.

Vorbei ist die Zeit der Marke, die sich stets wieder neu erschafft und dem Verbraucher hundert unterschiedliche Gesichter prä-sentiert. Wenn die Zeiten unsicher sind und die
Konstanz im Weltgefühl schwindet, erwartet der Verbraucher eine klare Position und Identität seiner Marke. Wie rasch Menschen Marken ihre Sympathie entziehen, wenn sie keine verlässlichen Positionen mehr beziehen, lässt sich derzeit an den politischen Parteien erkennen.

Verbraucher erwarten klare Positionierungen
Nur die Grünen gewinnen in der Krise an Vertrauen, weil sie einen nachhaltigen Markenkern aufgebaut haben. Verlässlichkeit und Vertrauen sind für die Marke wichtiger denn je. Die Sehnsucht nach verlässlichen Führungsgestalten jenseits der etablierten politischen Klasse griff zu Guttenberg hervorragend auf. Er stilisierte sich bis zu der Plagiatsaffäre als Original: als stimmige und glaubwürdige Markenpersönlichkeit. Die "Guttenberg-Sehnsucht" können auch Marken bedienen. Denn sie leben gerade heute davon, dass sie anfassbarer werden. Die Persönlichkeit hinter der Markenpersönlichkeit gewinnt an Bedeutung. Wie der persönliche Einsatz Glaubwürdigkeit stiften kann, haben Herr Hipp oder Götz Werner vorgemacht. Die deutsche Wirtschaft braucht aber noch mehr hippe Götzen, zu denen die Verbraucher vertrauensvoll aufblicken können. Verlässlichkeit und Vertrauen können die Marken aber auch durch den Verweis auf ihre Tradition und Geschichte stärken. Denn dadurch signalisieren sie dem Kunden: Wir haben bereits wechselvolle und stürmische Zeiten überstanden. Wir sind für dich ein Fels in der Brandung.

Tradition und Heimat stiften Geborgenheit
Zeiten überstanden. Wir sind für dich ein Fels in der Brandung. Neben der Tradition wird aber auch die Heimat immer wichtiger. Sie ist sozusagen der Kontrapunkt zu den endlosen Weiten des World Wide Web und zur Globalisierungs­angst. Heimat ist das neue Bio. Denn Bio hat an Glaubwürdigkeit verloren. Der Verweis auf Mutter Natur ist inflationär und dadurch beliebig geworden. Heimat steht heute für Geborgenheit und unbeschwerte Kindheit, für eine mütterliche Landliebe-Welt, in der man noch unbekümmert genießen konnte. Gerade in Krisenzeiten schreit der Verbraucher geradezu nach der Heimat. [f1] Und er hat Angst, den Boden unter den ­Füßen zu verlieren und abzustürzen. Deutschland erscheint mittlerweile als Zweiklassengesellschaft, in der auch der Mittelschicht der gesellschaftliche Abstieg droht. Durch den Kauf von No-Name-Produkten im Supermarkt oder durch das Einkaufen im Discounter versucht der Kunde, seinen Lebensstandard zu halten. Aber auch der gezielte Kauf von Marken­artikeln gewinnt für ihn an Bedeutung, denn er dient der persönlichen Status-Vergewisserung. Mit der Marke beweist man, dass man noch mithalten kann.

Die Frage nach dem Wert der Marke ist daher auch immer die Frage nach dem eigenen Wert. Das Attribut billig bedeutet daher nicht nur eine partielle Entwertung der Marke, sondern auch eine Selbsterniedrigung des Verbrauchers. Marken müssen nicht billig sein, sondern preiswert. Preisaktionen unter­minieren nicht den Wert einer Marke, wenn sie als nachvollziehbares temporäres Jubiläums-, Treue- oder Frühjahrs-Entgegenkommen kommuniziert werden. Generell wird die Bedeutung des Preises für die Akzeptanz von Markenartikeln überschätzt. Die Marke lebt von ihrem emotionalen Mehrwert. Gerade in der heutigen Zeit kann sie Sinn, Inspiration und Aufbruchsgeist vermitteln, was man in vielen Feldern der Gesellschaft nicht mehr findet. Marken waren immer schon Sinnstifter, die den Menschen anschaulich

[b]Emotionaler Mehrwert statt Preisfixierung[/b]
dabei halfen, ihren Alltag zu kultivieren: Welchen Fahrstil lege ich an den Tag - frankophil gelassen oder sportiv? Wie putze ich meine Wohnung - generalstabsmäßig gründlich oder als properes Blendwerk? Wie zelebriere ich ­Kaffeegenuss? Wie pflege ich mein Gesicht? Auf diese Stil- und Sinnfragen geben Marken sinnbildliche Antworten. Sie sind daher der Knigge des Alltags. Sie geben Orientierung und das macht sie unverzichtbar. Erfolgreiche Markenführung setzt daher voraus, dass man die Sinnfragen der Verbraucher kennt, ihre geheimen Motivationen und Ängste. Und dass man auch um die spezifische Bedeutung und einzigartige Position weiß, die die Marke auch morgen für den Verbraucher erfüllt.

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