von Gastbeitrag
Müntefering über das Krisentreffen der SPD-Führung am Tag nach der verheerenden Bundestagswahlschlappe im Jahre 2009. Er meinte eigentlich "Wortmeldungen". Die drei Worte Müntes umreißen die beiden Grundaufgaben der Marktforschung: Messen (40 Meldungen!) und Verstehen (Wieso Mord statt Wort?). Die quantitativ ausgerichtete Marktforschung liefert die harten Daten und Zahlen.
Sie zeigt auf, welche Konsumenten welches Produkt wie oft konsumieren und wie sich die Abverkäufe in der Zeit oder beim Fernsehen täglich verändern. Die GFK erfüllt so professionell das Stoßgebet der TV-Macher: "Unsere tägliche Quote gib uns heute." Diese Bestandsaufnahme bildet das unverzichtbare strategische Basiswissen für die Marktbearbeitung. Die quantitativen Methoden sind in den letzten Jahren kontinuierlich verfeinert worden.
Die Situation bei der qualitativen und auf Verstehen ausgerichteten Marktforschung ist schwieriger. Sie verspricht die Eröffnung marktstrategischer Vorteile. Versteht man die seltsamen Beweggründe der Konsumenten, kann man auch Märkte und Marken besser bewegen. Doch der Sinn des Konsumentenverhaltens lässt sich weder messen noch konstatieren, sondern nur (re-)konstruieren. Bei Müntes Fehl-leistung fällt uns die Sinn-Rekonstruktion leicht, weil wir sowohl die Person als auch den Kontext genau kennen: Müntefering hatte gespürt, dass die SPD-Führung ihn für die Wahlschlappe verantwortlich macht und ihn am liebsten abschießen würde. Entgegen seiner ursprünglichen Durchhalteabsicht stellte er daher sein Amt als Parteivorsitzender plötzlich zur Verfügung.
Oft ist es jedoch viel schwieriger, die plötzlichen Verhaltensänderungen der Verbraucher zu verstehen. Wir kennen weder den Kunden persönlich noch den Alltagskontext, aus dem heraus er seine Kaufentscheidungen trifft. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kunde extrem wandelbar ist. Er agiert nicht personal konstant, sondern aus der Logik eines Marktes heraus. Im Umgang mit Backpulver ist für ihn die Oetker´sche Gelinggarantie unverzichtbar. Im Umgang mit Kapitalmarktprodukten nimmt er zockend Einbrüche in Kauf. Zudem ist er von unbewussten Motiven getrieben, die er selber nicht kennt und über die er daher auch keine Auskunft geben kann.
Die qualitative Marktforschung sucht daher immer wieder den erlösenden Ausweg aus diesem ewigen Verständnis-Dilemma. Mediale Hochkonjunktur genießt derzeit die Hirnforschung. Sie verspricht direkt via Hirnscan in den Kopf des Verbrauchers blicken und so seine eigentlichen Handlungsimpulse und Informationsverarbeitungsmechanismen dechiffrieren zu können. So interessant die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Neurophysiologie auch sind. Für die praktische Nutzung der Hirnforschung gibt es zwei Umsetzungsbarrieren. Es ist ungeheuer zeit- und kostenaufwändig, die Kunden zu Marktforschungszwecken in den Gehirnscan zu schieben. Und selbst die führenden Pioniere der Neurophysiologie räumen ein, dass das abbildbare neuronale Flackern allein noch keinen aussagekräftigen Sinnzusammenhang stiftet. Der Direktor des Max-Planck-Institutes für Kognitions und Neurowissenschaften postulierte sogar jüngst in der Zeitung "Die Zeit": "Wenn wir uns fragen, warum sich Menschen unterschiedlich verhalten, hilft uns ein Blick in deren Hirne nicht viel weiter."
Denn egal wie gut man auch scannt: Das Gehirn kann nicht sprechen. Es liefert nur neuronale Profile, die in sinnvolle Bedeutungen übersetzt werden müssen. Das geht nicht ohne Interpretation und Spekulation. Diese Barrieren führen dazu, dass in der Regel von der Neuromarktforschung recht einfache Test- und Messverfahren genutzt werden, die dann noch mit qualitativen Techniken kombiniert werden. Diese Verfahren beanspruchen zwar den Nimbus der Neurophysiologie, allein dadurch sind sie jedoch weder besser noch schlechter als die Verfahren der herkömmlichen Marktforschung.
Immer stärkerer Beliebtheit erfreut sich auch die Online-Forschung, denn sie verspricht unmittelbaren Einblick in die Produktion von Meinungen, Haltungen und Bedeutungen. In der Diskursvielfalt der weltweiten Nutzerforen artikuliert sich die Stimme der Kunden - meist mit viel mehr als 40 Wortmeldungen. Hier werden mit immer weitreichenderen Wirkungen Produkte oder Marken gefeiert oder verurteilt und Trends dynamisiert. Die Beobachtung und Analyse dieses weltweiten Meinungsmarktes werden daher die Zukunft der Marktforschung mitbestimmen. Die Online-Forschung wird die Face-to-Face-Forschung ergänzen, aber nicht ersetzen können. Denn wirkliches Verstehen braucht nicht nur den Text, sondern den Kontext und die analoge Unmittelbarkeit. Die leibliche Identität des Kunden, sein Ausdrucksgebaren, die atmosphärische Interaktivität sind wichtig, um ihn wirklich zu begreifen. Das Verständnis der 40 Mordmeldungen Müntes wird getragen durch die wackere Zerknirschtheit seines Auftritts oder die trotzige Resignation seines Untertons.
Das große Verdienst der Ethno-Marktforschung besteht darin, wieder die Augen zu öffnen für die Alltags- und Lebenswelt des Verbrauchers. Man verlässt sich nicht mehr auf abstrakte Zahlen, man verschanzt sich nicht mehr hinter virtueller Distanz, sondern schnuppert den Stallgeruch der Märkte. Diese Berührung mit der Wirklichkeit des Verbrauchers schafft gleichermaßen eine sensible Inspiration wie eine gesunde Erdung der Marktstrategie. Meine Sympathie für die Ethno-Marktforschung gründet sich darin, dass der morphologische Ansatz von rheingold Pionierarbeit in dieser Disziplin geleistet hat. Wie kann man den Alltag der Menschen besser verstehen, als wenn man die Menschen in ihrem Umfeld psychologisch exploriert und sie im übertragenen Sinne auf die Couch legt. Die Marktphänomene sind die Lehre. Allerdings liefern Phänomene allein noch kein Verständnis. Wenn die Ethno-Marktforschung zum Beispiel feststellt, dass der Handykonsum nach dem Rauchverbot in britischen Pubs sprunghaft gestiegen ist, dann erklärt sich dieser Zusammenhang nicht von selber.
Phänomene und Verständnis sind vergleichbar mit Öl und Benzin. Ohne Öl kein Benzin. Aber Öl alleine reicht nicht. Der Rohstoff muss erst raffiniert und veredelt werden. Analog entspringt das Verständnis erst einer wissenschaftlichen Bearbeitung der Phänomene. Das ist und bleibt die hochwertigste Aufgabe einer qualitativen Analyse. Die Analyse des britischen Pub-Phänomens zeigt so eine psychologische Gemeinsamkeit von Zigarette und Handy auf. Beide dienen den Menschen als situatives Therapeutikum. Beide helfen Langeweilephasen oder Leerstellen im Alltag zu überbrücken. Indem man fünf Minuten rhythmisch Rauch ausbläst oder belanglose SMS versendet. Im täglichen Kreuzzug gegen die Langeweile hat das Handy durch seine Multioptionalität der Zigarette den Rang abgelaufen.
Die Qualitätssicherung der Analyse bleibt eine wesentliche Zukunftsherausforderung der Marktforschung. Idealiter gründet sich diese Analyse auf wissenschaftlichen Prinzipien. Also auf einer angemessenen Methode, die aus einer fundierten Theorie über das Verhalten und Erleben der Verbraucher abgeleitet ist. Dadurch unterscheidet sie sich von der bloßen Bauchgefühlskunst der Interpretation oder Spekulation.
Allerdings werden in der Marktforschung häufig neue Verfahren als neue Methoden verkauft. Unter dem Motto "Co-Creation" werden derzeit auf Marktforschungskongressen hymnisch neue "Methoden" besungen, die schnell, kreativ und unmittelbar sind. Denn sie beziehen den Verbraucher direkt online und in seinen sozialen Netzwerken mit in Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse ein. Allerdings handelt es sich hier lediglich um neue Verfahren, wie man preiswert und prompt Meinungen, Einfälle oder Wertungen der Konsumenten generieren kann. Am Ende steht der Forscher vor einem schillernden Wust von 4000 phänomenalen Wortmeldungen. Die eigentliche Forschungskunst setzt aber erst ein, wenn dieser Wust systematisiert, hierarchisiert und in einen funktionierenden Sinnzusammenhang gebracht wird. Das gelingt aber nur durch eine fundierte Methode, die den Weg weist, wie man von den Phänomenen zu den Erklärungen gelangt.
Erst durch diese methodische Qualität und Tiefe ihrer Analysen kann die Marktforschung auch in Krisenzeiten mehr sein als ein konstatierender Datenlieferant und Wortmelder. Ihr Mehrwert liegt darin, dass sie getreu dem Motto "Wissen ist Macht" als strategischer Berater und Inspirationspartner agiert und die Märkte in eine bessere Zukunft führt.
Der Autor: Stephan Grünewald ist Geschäftsführer von rheingold, Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen in Köln
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