von Gastbeitrag
Interaktive Unterhaltung erfindet sich auf dem Weg zur Supermacht der Entertainmentbranche gerade völlig neu. Digitale Spiele werden zum Unterhaltungsmedium für jedermann und rücken immer stärker in den Fokus von Marketing, Werbung und Markenkommunikation. Das Verständnis von Gamesystemen wird zur Schlüsselkompetenz.
Wenn wir einem Freund von einem Film erzählen, berichten wir, was wir gesehen haben. Wenn wir ihm von einem Game erzählen, berichten wir, was wir gemacht haben. Die Echtzeitrückmeldungen, die aktuelle Gamesysteme auf unsere Handlungen in der Spielwelt geben, lassen uns die unmittelbaren Konsequenzen unserer Entscheide direkt erleben. Die Psychologie kennt dafür den Begriff Selbstwirksamkeitserleben. Wir sind Teil des Geschehens und erfahren uns selber als Akteur, im Dialog mit dem Spielsystem und anderen Spielern.
Mit dem Versprechen auf ein bisher unerreichtes "immersives" Erlebnis bricht Avatar, das Science-Fiction-Epos von James Cameron, an den Kinokassen rund um die Welt zwar Rekorde. Doch auch noch so spektakuläre Filmwelten in 3-D-Technologie ändern nichts daran, dass Games den Film als Leitmedium der Unterhaltung ablösen werden. Wir leben in einer Welt, die zunehmend von komplexen, vernetzten Systemen bestimmt ist - vom globalen Finanz- und Wirtschaftssystem über weltumspannende Echtzeit-Informations- und Kommunikationssysteme bis hin zum fragilen Klimasystem. Games haben mit ihrer immersiven, sozialen und emotionalen Dimension wie kein anderes Medium das Potenzial, diesen zentralen Aspekt unserer Welt direkt erfahr- und erlebbar zu machen. Interaktive Systeme werden unsere Wahrnehmung im 21. Jahrhundert prägen, wie der Film das im vergangenen Jahrhundert getan hat.
Neue Zielgruppen
Interaktive Unterhaltung hat in den vergangenen Jahren einen beeindruckenden Siegeszug hingelegt. Kein anderer Sektor der Entertainmentbranche ist so rasant gewachsen. Während die meisten Branchen stagnieren, herrscht in der Gamewelt Goldgräberstimmung. In den USA und Großbritannien erreichten die jährlichen Wachstumsraten der Video- und Computerspieleindustrie sagenhafte 20 bis 30 Prozent. Auch wenn solche Werte in naher Zukunft nicht mehr zu erwarten sind, steht die Branche in der aktuellen Krise weiterhin gut da. Für 2013 wird ein weltweiter Umsatz von über 73 Milliarden Dollar vorhergesagt; im letzten Jahr waren es 51 Milliarden. Bald wird die Mehrheit der Menschen rund um die Welt mit interaktiven Spielewelten sozialisiert worden sein. Die Zeiten, in denen digitale Games in erster Linie von Kindern und Jugendlichen gespielt wurden, gehören der Vergangenheit an. Noch nie war das Angebot so vielfältig wie heute.
[f1]Besonders sogenannte Casual Games, die weder große Zeitinvestitionen noch spezifische Gaming-Fähigkeiten voraussetzen und wie Snacks konsumiert werden können, erreichen mit ihren Pick-up-and-Play-Qualitäten breite, neue Zielgruppen. Parallel dazu haben einfache, intuitive Bedienmechanismen, angeführt von Nintendos Wii-Konsole oder Musiktiteln wie Guitar Hero und Rock Band, ein Publikum erobert, das sich mit herkömmlichen Gamecontrollern schwergetan hat. Resultat dieser Entwicklungen: Das Durchschnittsalter der Gamer in den USA liegt heute bei 35 Jahren, in Deutschland bei 33 Jahren. Letztes Jahr spiel-ten 26 Prozent der über 50-jährigen Amerikaner Games; 1999 waren das erst 9 Prozent. 40 Prozent aller US-Gamer sind Frauen, in Deutschland geht man von 33 Prozent aus. Bei Casual Games stellen Frauen mit 52 Prozent sogar die Mehrheit. In Frankreich spielen gemäß einer aktuellen Studie 25 Millionen Menschen regelmäßig Games, das sind rund 40 Prozent der Bevölkerung.
Evolutionssprung
Das ist aber erst der Anfang. Ende vergangenen Jahres hat der Branchenriese Electronic Arts das britische Start-up-Unternehmen Playfish aufgekauft. Playfish hat sich einen Namen gemacht als Anbieter von sogenannten Social Games auf Facebook. Die Übernahme ist ein Zeichen unter vielen für den aktuellen Evolutionsschritt. Soziale Netzwerke wie Facebook und vernetzte mobile Geräte wie das iPhone entwickeln sich zu erfolgreichen Gameplattformen. Zum ersten Mal sind digitale Games dort, wo sich die Masse der Konsumenten im Internet aufhält. Wir alle hinterlassen auf Facebook oder Twitter eine Menge Spuren. Diese Daten werden zum Rohmaterial für Spiele. Sie werden zu Gameerlebnissen verwoben, in denen die Konsumenten spielerisch mit ihrem Social Graph, ihren Online-Bekanntschaften, interagieren. Statt ein weiteres Mal die Welt vor Aliens zu retten, spielt man mit den Daten, die man im Austausch mit seinen Online-Freunden generiert.
Dank neuen Gameplattformen, neuen Zielgruppen, digitalen Vertriebskanälen und der Überlagerung von realen und virtuellen Angeboten in ortsbasierten Applikationen bietet die interaktive Unterhaltung zahlreiche Strategien für Marke-ting, Werbung und Markenkommunikation. Man ist näher dran am Konsumenten als je zuvor. Die technischen Möglichkeiten des Internets erlauben es Anbietern, in Echtzeit zu verfolgen, was bei Spielern ankommt und was nicht. Das macht es möglich, Spiel- und Werbeangebote laufend den Bedürfnissen der Spieler anzupassen. Besonders effektiv sind Formen der In-Game-Werbung, die direkt beim Gameplay ansetzen und auf soziale Netzwerke und mobile Plattformen zielen. Im sogenannten Free-to-Play-Modell zum Beispiel kommt der Spieler gratis ins Game, zahlt aber mit Mikrotransaktionen für virtuelle Items winzige Geldbeträge. Gemäß aktuellen Schätzungen werden mit Mikrotransaktionen auf Facebook jährlich 500 Millionen Dollar umgesetzt. Mittlerweile können sogar auf dem iPhone virtuelle Items getradet und mit realen Locations verknüpft werden. Und die großen Akteure bringen sich nun auch im mobilen Internet in Stellung. Google hat mit dem Kauf von AdMob, dem führenden Anzeigenvermarkter für Mobilgeräte, das Rennen eröffnet. Apple will sich mit der Übernahme von Wireless Quattro seinerseits einen Teil des lukrativen Zukunftsmarkts sichern.
Replay-Value
Die universelle Anziehungskraft von Spielmechanismen und Designstrategien aus Games lässt kaum einen Aspekt unserer Erlebnis-, Konsum- und Kommunikationswelten unberührt. Die Gameindustrie hat über Jahrzehnte erprobt, wie aus Spielspaß und aktiver Teilnahme packende Erlebnisse entstehen, die sich für die Nutzer dynamisch, ihren Handlungen oder sozialen Interaktionen entsprechend, verändern. Gestaltungsprinzipien, auf denen digitale Spiele basieren, werden denn auch immer häufiger außerhalb der Spielebranche eingesetzt, etwa beim Produkte-, Interface- und Servicedesign.
Ein Designprinzip, das erfolgreich auf Nicht-Game-Kontexte übertragen werden kann, ist etwa die sogenannte Replay-Value. Warum spielen wir ein Game immer und immer wieder? Games haben zahlreiche Designbausteine entwickelt, die eine hohe Erlebnisqualität auch bei häufiger Nutzung garantieren. Der Verbindung von Spielmechanis-men und viralen Strategien wird zum Beispiel bei der Konzipierung der Shoppingwelten und Point of Sales von morgen eine immer bedeutendere Rolle zukommen. Bis vor Kurzem standen bei der Planung einer Einkaufslandschaft Theater und Film als primäre Metapher Modell. Vom Ladenbau bis zur Kundenführung orientierte man sich an ihnen. Morgen wird die interaktive Unterhaltung als Referenzmedium dienen. Sie bietet Lösungsansätze zur Gestaltung von Erleb-nissen, die nicht bei der Inszenierung von Inhalten und Produkten Halt machen, sondern bei Prozessen, Interaktion und Dialog ansetzen.
Marken im Erlebnis-Flow
Wir leben in einer immer perfekter kartografierten Welt, in der wir uns dank GPS und Google Earth bald nie mehr verirren werden. Games hingegen bieten uns offene, unkartografierte Welten, die wir in einer fast physischen Weise erschließen und erforschen können. Sie geben uns die Freiheit, uns zu verlieren, Entscheide zu treffen, Allianzen zu schmieden, aufzubauen oder zu zerstören, dorthin zu gehen, wo vor uns noch nie jemand war. Die Konsumenten, die mit Games und interaktiven Medien sozialisiert worden sind, in denen Mechanismen und Strategien wie Exploration, Kooperation, Competition und Dialog zentral sind, werden die Forderung nach spielerischen Ansätzen immer stärker an den Erlebnis-Flow von Marken-, Medien- und Dienstleistungsangeboten stellen. Sie erwarten, dass diese sich anfühlen und verhalten wie ein Game, auf das sie einwirken können, das sie verän-dern können. In dem Maße, in dem sich digitale Spiele zum Unterhaltungsmedium für jedermann entwickeln und neue Territorien erobern, wird das Verständnis von Gamesystemen zur Schlüsselkompetenz.
[b]Die Autoren: Bruno Beusch und Tina Cassani führen die 1995 in Paris gegründete Agentur TNC Network. Sie beraten Kunden in Wirtschaft und Medien zum Nutzen von interaktiven Systemen in Konsum-, Kommunikations- und Erlebniswelten und leiten den internationalen Think Tank Gamehotel zu Trends der interaktiven Unterhaltung. [/b]
Copyright: Tina Cassani, Bruno Beusch, 2010. Alle Rechte vorbehalten.
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