11.11.2009 - Immer wieder sind es die außergewöhnlichen, meist schlimmen Vorfälle, die Anlass bieten, um über den Umgang mit Social Media Diensten zu philosophieren. Kritik wurde dabei in der Vergangenheit an den Medien geäußert (wie etwa in Winnenden, wo einige vorschnell loslegten), aber auch an den Laien, die sich teils offenbar nicht bewusst sind, was sie mit ihren öffentlichen Tweets anrichten können. Gestern war wieder einmal so ein Tag, an dem sich beobachten ließ, wie in Twitterland mit sensiblen Themen umgegangen wird.
Vorab: Der [d]Freitod[d] Suizid von Robert Enke hat viele Menschen bestürzt. Und so wie sich viele Menschen und Fans in der AWD Arena in Hannover zusammengefunden haben, haben auch gefühlte 99 Prozent der Twitteratis den Microblogging-Kanal genutzt, um ihre Sprachlosigkeit zu artikulieren. Soweit so gut. Leider aber ist es dieses eine Prozent, das negativ in Erinnerung bleiben. So ist es einerseits eine Mischung aus Voyeurismus und boulevardeskem Mitteilungstrieb, die einige ganz wenige dazu veranlasst, das Gefühl zu vermitteln, sie seien "ganz nah" dran. Sei es, weil ihr Zug gerade auf freier Strecke irgendwo in der Nähe Hannovers hält oder weil sie vor Lichtjahren den Nationaltorhüter mal beim Gassi gehen getroffen haben. Diese Form der Wichtigtuerei ist ärgerlich und hat - meiner Ansicht nach - vor allem zum Zweck, die Gunst des traurigen Anlasses zu nutzen, um sich en passant ein paar Follower einzuverleiben. Ähnliche Motive dürften Trittbrettfahrer verfolgen, die schnell Trauerseiten im Web oder Fanpages in Facebook zusammenhauen. Ohne pauschal alle über einen Kamm scheren zu wollen, hier erfüllt das R.I.P. (Rest In Peace) bisweilen einen ähnlichen Zweck wie ein LOL (Laughing out loud) bei der Integration eines lustigen YouTube-Videos in das eigene Blog.
Fremdwort Empathie
Wichtigtuerei ist ärgerlich, letztlich aber kein Phänomen, das allein durch die neuen Kommunikationsformen hervorgerufen wurde. Früher waren es genau diese Menschen, die das Licht der RTL explosiv Kamerateams und den Notizblock der Bildreporter gesucht haben. Es hat sich also lediglich der Kanal und das Tempo geändert. Anders verhält es sich nach meiner Einschätzung mit einem Phänomen, dass ich in die Kategorien bewusste Provokation und Nerdismus einordnen möchte. Es scheint leider ein kleines Grüppchen von Menschen zu geben, die solche Ereignisse wählen, um ihre Gleichgültigkeit und ihr Außenseitertum bewusst zu unterstreichen. Anstatt achselzuckend zur Tagesordnung überzugehen, weil sie wahlweise keinen Bezug zum Fußball haben, nichts mit dem Namen Enke oder (aufgrund von Erziehungsversäumnissen) mit dem Fremdwort Empathie anfangen können, nutzen Sie die laufenden Diskussionen und Konversationen, um sich bewusst gegen den Mainstream zu stellen und selbst zu inszenieren. Da werden andere als Heulsusen und Betroffenheitsgaukler abgeurteilt oder das Ereignis selbst wird mit dem sprichwörtlichen Sack Reis in China gleichgesetzt. Das Ganze ist derart unerträglich, dass ich mich sogar weigere Beispiele hierfür zu bringen (wie ich es sonst ülicherweise mache). Letztlich schaden einige wenige so der gesamten Social Media Bewegung. Schade.
Tief Luft holen, ruhig weiteratmen und den Puls beruhigen
Wieder einmal zeigt sich: Wer Relevanz in diesen Kanälen erzeugen möchte (und auch zurückgespielt bekommt), tut gut daran, auf Besonnenheit, denn auf Tempo zu setzen. Gerade Twitter verführt dazu, schnell mal 140 Zeichen zu schreiben. Besser wäre es jedoch, einfach mal tief Luft zu holen, durchzuatmen und den Puls wieder auf ein erträgliches Maß zu bringen anstatt wie ein aufgeregtes Huhn sofort loszugackern - in der Hoffnung in der Vielstimmigkeit einen vermeintlichen Volltreffer zu landen. Dem zuletzt beschriebenen Klientel lege ich hingegen eine Lebensweisheit von Dieter Nuhr ans Herz: "Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten!" Damit wäre auch in der Social Media Sphäre manchmal schon viel gewonnen.
Übrigens: Allen, die den Abgesang auf den klassischen Journalismus in den letzten Wochen angestimmt haben, sei gesagt, dass es manchmal doch ganz gut ist, wenn die Kommunikationshoheit in den Händen weniger Profis liegt, die besonnen und zurückhaltend agieren. Das gilt umso mehr, wenn Informationen spärlich bis gar nicht vorhanden sind. Und um gleich etwaigen Einwänden vorzubeugen: Das gilt natürlich nicht ausnahmslos für alle Medien, die nun die Berichterstattung aufgenommen haben. Aber für die Kommentierung und Bewertung haben wir ja nun alle Kanäle in der Hand. Einen besseren Beitrag als den der 11 Freunde
habe ich - wie gestern bereits angemerkt und um mal den Anfang zu machen - noch nicht gefunden. Wie gesagt: Weniger ist manchmal eben mehr!
P.S.: Einen sinnvollen Vorschlag hätte ich dann doch zu machen. Vielleicht bahnt sich ja die Diskussion darüber, ob angesichts des Vorfalls das Länderspiel gegen Chile am Samstag stattfinden sollte oder nicht, ihren Weg. Das wäre ein substanzieller Beitrag, den Social Media abseits von "Trauerbewältigung" aktuell leisten könnte.
(Christoph Salzig)
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