Freiraum

Die Vereisung der Sexualität

29.07.2009 - Ein Freiraum-Beitrag von Stefan Grünewald, Psychologe und Mitgründer des Kölner Rheingold Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen. Sein Buch "Deutschland auf der Coach" war ein Bestseller.

Sex sells. Stimmt diese Aussage überhaupt noch? Wirkt Sex in der Werbung nicht heute eher blockierend oder belastend? Die Sexualität wandelt sich. In "erotischen" Werbespots werden Topmodels auf Eis gelegt. Sie tragen aufreizende Dessous, aber die Hitzigkeit sexueller Annäherung findet nicht statt.

Diese sexuellen Vereisungstendenzen weisen da-rauf hin, dass die Menschen heute unter den Kehrseiten der sexuellen Befreiung leiden. Denn Sexualität ist durch viele neue Perfektionszwänge überfrachtet: Durch Pille und Viagra ist eine ständige Einsatzbereitschaft möglich und gefordert. Ein ausgefeilter Vorspiel-Knigge gehört zur Betti-Kette. Ebenso eine Partnerbeglückungsdoktrin, die die gekonnte Beherrschung der Klitoris-Klaviatur oder eine virtuose Stellungsvielfalt voraussetzt.

Angst vor der SelbstauflösungStark nachgelassen hat jedoch die Bereitschaft, sich auf das Ungefähre und Unkontrollierbare einzulassen. Da heute selbst komplizierte Suchprozesse im Internet auf Knopfdruck funktionieren, fällt es schwer, die Störanfälligkeit einer sexuellen Annäherung zu akzeptieren. Geradezu Angst haben viele Menschen vor der völligen Selbstauflösung und Verschmelzung in einem erfüllenden Akt.

Das hat zur Folge, dass sich derzeit zwei große Sextrends beobachten lassen. Einerseits revoltieren immer mehr Menschen gegen sexuelle Leistungszwänge. Sie flüchten in eine virtuelle Sexualität, die die einfache Verfügbarkeit von Masturbations-Anreizen verspricht. Andererseits soll die Sexualität unter Kontrolle gebracht - eben auf Eis gelegt - werden, um nicht der Verschmelzung und Selbstauflösung zu erliegen. Die erotische Werbung greift diese Autonomie- und Kontrollwünsche auf. Frauen bewegen sich allein in leeren Räumen und gefallen sich in eingefrorenen Posen. Erotische Annäherung? Fehlanzeige!

Ausstrahlung auf die WerbungDie Vereisung der Sexualität strahlt auf die beworbenen Produkte aus. Sie erscheinen nicht mehr als Gleitmittel oder Übergangshilfe zu einer erfüllenden Sexualität, sondern als bloßer Kontrollgarant. Ein Beispiel: In einem Spot für eine Digitalkamera fotografiert sich ein junges Paar in der freien Natur beim Liebesspiel. Das ständige Posieren "vereitelt" die orgiastische Hingabe. Als sie sich hinterher ihre Fotos ansehen, entdecken sie im Hintergrund ein weiteres Liebespaar: Es sind ihre eigenen Eltern, die sich ohne Kamera ungehemmt und losgelöst lieben. Werbung, die auf autonome Kontrolle und Verfügbarkeit setzt, schafft zwar Sicherheit, aber auch coole Distanz. Sie amüsiert und berührt die Menschen nur vordergründig.

Es gibt aber auch Spots, die aus dem Vereisungstrend ausscheren. Sie berühren die Menschen, weil sie auch sexuelle Ängste oder Probleme behandeln. Wie etwa der Spot eines schwedischen Möbelhauses: Ein älteres Ehepaar tobt sich fast nackt zu Hause bei einer Liebesjagd aus. Als sie ihm gerade die Unterhose entreißt, stehen plötzlich ihre erwachsenen Kinder in der Wohnung. Die Störanfälligkeit der Sexualität wird so kongenial thematisiert und aufgelöst. Der Spot endet mit der Botschaft "Time to leave home". Die eigene Wohnung avanciert zum idealen Ort ebenso für den zweiten sexuellen Frühling der Eltern wie auch für den sexuellen Aufbruch der Jugend.

Produkte als ProblemlöserErfolgreiche und wirklich berührende Werbung ist immer auch sinnreiche Werbung. Sie bietet keine einfachen und schnellen Lösungen, sondern behandelt Alltagsprobleme der Menschen mit. Sie greift Ängste auf und macht Mut, sich gefürchteten Entwicklungen zu stellen. Sie propagiert nicht nur, zu kontrollieren, sondern auch zu l(i)eben. Sie dient daher nicht nur dem Verkauf einer Ware, sondern sie positioniert Produkte als lebbare und erstrebenswerte Problemlösungen.

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