03.08.2012 - Panik! Ich renne wie verrückt durch die Hamburger Mönckebergstraße, verfolgt von etwa einem Dutzend Männern, die mir euphorisch hinterherschreien: "Warten Sie Herr Lipke, so warten Sie doch!" Sie sind charmant gekleidet. Die Absätze ihrer geschmeidigen Lederschuhe machen laute Geräusche. Ich fühle mich wie von einer Horde Rinder verfolgt. Ihr Auftreten verrät sie: Online-Marketing-Experten - Fachgebiet Retargeting!
Die flatternden Schlipse in den CI-Farben von Zalando, Frontlineshop, Amazon und anderen Online-Händlern kommen mir immer näher. Ihre Aktenkoffer sind vollgestopft mit Daten über meine letzten Einkaufstouren. Penibel wurde mithilfe komplexer Algorithmen mein Kaufverhalten während des Aufenthaltes im jeweiligen Geschäft analysiert und ausgewertet. Wie lange ich mir die vier verschiedenen Paar Schuhe angesehen habe oder dass ich versäumt habe, darauf zu achten, dass es das Hemd noch in einer anderen Farbe gab - jedes kleinste Detail wurde dokumentiert und in Variablen abgespeichert.
Ich laufe über den Rathausmarkt. Langsam geht mir die Puste aus, ich muss pausieren. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf die nächste Bank zu setzen und mich meinen Verfolgern zu stellen. Die Einsicht, dass sie nun meine volle Aufmerksamkeit haben, zaubert ihnen ein falsches Lächeln ins Gesicht. Einer der Typen schleppt einen Einkaufswagen hinter sich her und prescht damit direkt auf mich zu. "Herr Lipke, Sie haben hier noch fünf Artikel in Ihrem Einkaufswagen, und wir haben beschlossen, dass wir Sie gerne als Kunden gewinnen möchten. Daher sparen Sie jetzt die Versandkosten, ist das kein tolles Angebot?"
"Nein, ist es nicht, Sie Spinner!" Meine gereizte Äußerung bewirkt keinerlei emotionale Reaktion im Gesicht des Mannes. Mein Bedenken laut auszusprechen wäre zwecklos, denn Marketing funktioniert nur in eine Richtung, und die führt nun mal zu mir, dem Kunden. Der Zalando-Bote bewirft mich reihenweise mit verschiedenen Schuhen und brüllt dabei: "Herr Lipke, diese Modelle werden Ihnen bestimmt auch gefallen!" Es hagelt Schuhe; ich muss hier weg. Ich sprinte in Richtung Neuer Wall. Währenddessen wirft der Zalando-Bote bereits Shirts und Hosen auf mich, "Hier, diese Artikel haben anderen Kunden auch gefallen!"
Am Neuen Wall schaffe ich es, meine Verfolger abzuschütteln, und setze mich ins nächste Café. Aus meiner Tasche zücke ich den "Spiegel", jetzt wird gelesen. Doch bereits auf der ersten Seite trifft es mich wie ein Schlag: "25 Prozent auf Ihren Warenkorb, Herr Lipke!" Entsetzt lasse ich die Zeitschrift fallen.
Hier bin ich nicht mehr sicher, im Sprint hechte ich aus der Tür des Cafés, auf einmal knallt es laut, alles wird schwarz, und ich stürze. Als ich wieder zu mir komme, steht der Zalando-Bote über mir, in seiner Hand hält er die Marketing-Keule. Er beginnt auf mich einzuprügeln. Auf mich, den Kunden? Immer wieder schlägt er mir mit der Marketing-Keule ins Gesicht, blutverschmiert und mit letzter Kraft raffe ich mich auf und laufe los. Der Zalando-Bote ist jetzt in Rage, wie ein Verrückter brüllt er durch die ganze Straße: "Unsere Werbebudgets sind unbegrenzt, wir kriegen Sie schon noch zum Kauf!"
Ich laufe in den nächsten Laden - den Apple Store - und stürze mich auf den ersten Mac. Safari-Browser, Verlauf löschen, Cookies löschen, Zurücksetzen, privates Surfen aktivieren - Ruhe.
Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Der Zalando-Bote schlendert enttäuscht an mir vorbei. Er würdigt mich keines Blickes. Jetzt, wo er keine Daten mehr von mir hat, bin ich uninteressant für ihn. Bis auf Weiteres zumindest.
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