28.01.2002 - Friedhelm Lammoth über die Zukunft der Werbung nach dem 11. September
Gut, dass die Statistiker heute über alle und alles Buch führen. Wenn sie Recht haben, wurden in der Nacht vom 31. Dezember 2001 auf den 1. Januar 2002 in Deutschland 22 Prozent weniger Feuerwerkskörper abgefeuert als im Vorjahr. Das hat es noch nie gegeben und ist - wie der Besuch von Heimspielen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft - ein zuverlässiger Indikator für nationale Befindlichkeiten.
Der schwarze September mit den Schreckensbildern einstürzender WTC-Türme hat nicht nur in den USA Weltvertrauen und Zukunftsgläubigkeit schwer erschüttert. Lange über die ersten Tage der kollektiven Gefühligkeit hinaus. In den Medien tummeln sich seitdem Legionen von Kaffeesatzlesern, Zeitgeist-Auguren und Trend-Beobachtern. Vereint in der Erkenntnis, dass die westliche Welt leicht verwundbar ist. Und vereint in ihrem Pessimismus: "Die Wirtschaft der kommenden Jahre wird vom zentralen Begriff Risiko geprägt", orakelt Eiltempo-Analyst Matthias Horx und weiß nach einem schnellen Blick in die Glaskugel, "dass im Unsicherheitszeitalter alles unsicher ist: öffentliche Räume, Märkte, Konsumentenstimmungen, Politik, Investitionen".
Kein Wort mehr von liberaler Erneuerung, nichts vom Triumph der Ökonomie, geschweige denn von mehr Wettbewerb: Bürokraten bereiten die Renaissance des Zwangs-, Fiskal- und Interventionsstaates vor. Meinungsführer plädieren wieder für kollektive Tugendnormen anstelle von Wahlfreiheit und Optionenvielfalt. Politiker fordern eine Kultur verschärfter Ernsthaftigkeit nach dem Motto: mehr Pathos, mehr Pflicht, weniger Spaß, weniger Kür. Und Wirtschaftsführer reihen Negativbilanz an Negativbilanz und reden von geringem Wachstum, vom Sog der Deflationsspiralen und von vier Millionen Arbeitslosen.
"Am meisten fasziniert die Erwartung des Schlimmen", sagt David Bosshart, Direktor des auf Trends spezialisierten Gottlieb-Duttweiler-Instituts in der Schweiz, und fährt fort: "Denn wer Schlimmes erwartet, ist immer auf der guten Seite: Ökokatastrophe, unmenschlicher Kapitalismus, gentechnische Manipulation".
Könnte man heute über die Zukunft abstimmen - die Mehrheit in Deutschland wäre dagegen. Die meisten Menschen auf den Straßen sehen aus, als hätten sie den Tag schon beendet, bevor er richtig angefangen hat. In ihren Augen steht die Angst, Benutzername und Passwort zu vergessen.
Das Unsicherheitszeitalter hat nicht nur auf die Stimmung gedrückt, sie hat auch das Umfeld der Werbung verwüstet. Statt Chancen bewerten Trendforscher wie Li Edelkoort und Peter Wippermann neuerdings Risiken und fragen sich: Wo steht dem Kunden der Kopf, wenn er täglich zwischen 4.500 Werbe-Impulsen noch Frontberichte und Hiobsbotschaften verarbeiten soll? Wie kann ich Aufmerksamkeit für meine Anzeige erwarten, wenn sie im Sandwich zwischen Schreckensmeldungen steckt? Wie soll ich ein lustvolles Verhältnis zu meinem Handy entwickeln, wenn ich die Helpline für Milzbrand-Infektionen gespeichert habe? Und wie kann ein Mailing Begeisterung entfachen, wenn der Satz "Leben ist lebensgefährlich" so grotesk zutreffend wird, weil mir mein eigener Briefkasten suspekt ist?
Weil sie sich nicht festlegen wollen, geben die Trendforscher meist sibyllinische Antworten und stellen mehrere Szenarien zur Wahl. Li Edelkoort orakelt sowohl von einer Alice-im-Wunderland-Welle als auch vom Szenario der neuen Langeweile. Horx spricht einerseits vom "Globalisierungs-Plus-Gesetz", nach dem die Welt gerade in der Krise zusammenwächst und andererseits vom "Hochsicherheitsszenario" des Terrors.
Auch das hat Tradition. Seit Delphi und selbst bei Orwell gab es zwei Prognosen für die Zukunft. Eine pessimistische und eine optimistische. Durchgesetzt hat sich meist die optimistische. Denn die Menschen wollen nicht, dass das Risiko unser Leben beherrscht. Sie wollen so schnell wie möglich wieder zum Alltag zurückkehren. Zur Normalität. Das hat nichts mit mangelnder Sensibilität zu tun, sondern ist ein psychosomatisches Gesetz. Wir können nicht lange trauern, weil die Endorphine im Gehirn eine Halbwertzeit von fünf Minuten haben und das Gehirn alles tut, um wieder in den Zustand der Normalität zurückzukehren.
Im Übrigen haben Schreckensmeldungen schon immer zum Umfeld der Werbung gehört. Und die Inhalte der Werbung sind trotzdem immer die gleichen geblieben. Von einem Waschpulver wurde immer erwartet, dass es die Kleider gründlich und schonend reinigt. Von einem Auto auch in Zukunft, dass es sicher ist, komfortabel und sparsam.
Aber: Wir sollten die Welt mit neuen Augen betrachten. Und wir müssen neue Zusammenhänge für ein neues Leben herstellen, in dem nichts so sicher ist wie das Gefühl der Ungewissheit. Brauchen in Zukunft auch in Marketing und Kommunikation mehr Respekt. Respekt vor dem, was die Menschen fühlen und was unsere Kunden wirklich bewegt, was sie antreibt.
Dazu müssen wir Werber in Zukunft über die Grenzen von Marketing und Kommunikation hinausdenken. Nicht Werbe-, sondern Wertbotschaften sind jetzt gefragt.
Die soziale Verantwortung aller Marktpartner kann sich nicht mehr auf die Steigerung des Gewinns beschränken. Das, was Ralf Dahrendorf "verantwortlichen Kapitalismus" nennt, ist ein Markt mit mehr Gewissen, ein Individualismus mit mehr Mitgefühl. Denn im Gegensatz zur Überzeugung des 19. und 20. Jahrhunderts ist das Hier und Heute nicht mehr das Ein und Alles. Das Engagement von Wirtschaft und Werbung für die Umwelt, für die Förderung der Ausbildung, für die Verbesserung der Infrastruktur, für Kunst und Kultur, kann Wirkungen haben, die sich im Gewinn niederschlagen, selbst wenn sie sich einer eindeutigen Bilanzierung entziehen.
Dabei können wir uns auch auf unseren philosophischen Gewährsmann Peter Sloterdijk berufen. Er hofft auf die große Fusion und redet von einer technohumanen Kultur mit psychologischer Bildung. Und meint damit, dass die Mathematiker Poeten werden müssten, die Kybernetiker Religionsphilosophen, die Manager Komponisten, die Werber Schamanen. Am Anfang des Jahres 2002 ist das wenigstens eine Perspektive und allemal optimistischer, als der "Mega-Trend Terror", den das Kelkheimer Zukunftsinstitut ausgemacht haben will und in einer siebzigseitigen Sonderstudie für 100 Euro anpreist.
Friedhelm Lammoth ist Chef der Werbeagentur Lammoth Mailkonzept in St. Gallen
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