Die Branche blickt nach Osten

22.04.2004 - EU-Erweiterung stellt DM-Dienstleister vor neue Aufgaben

von Susanne C. Steiger

Ab Mai gehören Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, die drei baltischen Staaten und Slowenien zur Europäischen Union. Die Erweiterung birgt Chancen und Risiken - auf jeden Fall neue Konkurrenz und mehr Wettbewerb für die deutschen Marketing-Dienstleister. Viele haben bereits ihre Fühler ausgestreckt, einige produzieren seit Jahren in Tschechien oder Polen. Doch zunehmend werden die neuen EU-Mitglieder auch als interessante Märkte wahrgenommen. ONEtoONE befragte die Branche zu ihren Erwartungen und Strategien im neuen europäischen Wettbewerb.

Es ist längst kein Geheimnis mehr: Der deutsche Mittelstand steht der EU-Ostererweiterung insgesamt eher skeptisch gegenüber. Über 60 Prozent der Entscheider sehen im globalen Wettbewerb mehr Risiken als Chancen, das ermittelte das Institut für Mittelstandsforschung zusammen mit der Zeitschrift impulse. Angesichts sinkender Mailing-Auflagen und fallender Preise sehen viele ihre Margen bedroht. "Größere Auflagen werden bereits zunehmend im östlichen Ausland produziert - zu Kosten, die im Westen nicht zu erreichen sind," sagt Drei-D-Geschäftsführer Nils Ulrich.

Doch selbst die Stagnation entfaltet ihre eigene Dynamik: Mit Firmenakquisitionen, Investitionen in die Technik und neuem Angebotsportfolio wappnen sich deutsche Marketing-Dienstleister für den neuen europäischen Markt. Wie die Marktforscher von Ernst & Young Corporate Finance in ihrer aktuellen Studie "M&A-Trends in European Advertising and Marketing-Services 2003" herausfanden, verlagern sich die Firmenzusammenschlüsse der Dienstleister und Agenturen zunehmend auf den Bereich Direktmarketing und PR.

Die Akquisition klassischer Werbeagenturen geht indes zurück. Experten rechnen nicht mit dem Massenexodus deutscher Industrie-Unternehmen in den ganz nahen Osten, wenngleich der Standort mit nicht zu leugnenden Vorteilen punktet: die räumliche Nähe, niedrige Gehälter, hohe Wachstumserwartungen. Ein durchschnittliches Lohnniveau von 13 Prozent der deutschen Gehälter, 48 Stunden Wochenarbeitszeit und sensationelle Wachstumsraten im Direktmarketing - damit kann etwa Slowenien bei Investoren punkten. "Mehr Konkurrenz erwarten wir vor allem bei traditionellen Lettershop-Arbeiten", sagt Christian Humm, Geschäftsleiter beim Mail-Services-Anbieter Borek. Dort werde sicher eine Verlagerung in Billiglohnländer stattfinden. "Mit innovativen Lösungen bei Web-to-Print und Web-to-Mail erwarten wir dagegen zusätzliches Geschäft", so Humm.

Als Absatzmärkte geben die Neuen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht so viel her, urteilen die meisten. Doch mittelfristig werden die Märkte stärker und schneller wachsen als die alte EU, davon ist die Branche überzeugt. "Die Osterweiterung und Integration neuer Länder hat erst begonnen", sagt GHP-Chef Dr. Jürgen Wolf. "Ich bin überzeugt davon, dass in nur wenigen Jahren Länder wie Rumänien, Bulgarien, selbst die Ukraine und Russland hinzukommen." Die Branche stehe vor großen Herausforderungen, aber noch größeren Chancen, Direktmarketing europaweit als wichtigen Bestandteil der werblichen Ansprache zu etablieren.

Pioniere der Branche haben ihre Werkbänke schon vor Jahren gen Osten verlängert. 1992 gründete DM-Dienstleister Borek in Ungarn die eigene Vetriebsgesellschaft Pigge Pannónia und erwarb dort 1998 eine eigene Druckerei. Systematisch baut der Mail-Services-Anbieter GHP in den neuen EU-Ländern Produktionsunternehmen auf. An fünf Standorten in Polen, Ungarn und Tschechien setzen die Bamberger mittlerweile 25 Millionen Euro um - ein Vorsprung, den aufzuholen die Mitbewerber "Jahre kosten wird", freut sich GHP-Chef Dr. Jürgen Wolf. Der Papiergroßhändler Schneidersöhne gründet seit zehn Jahren Tochterunternehmen in Tschechien und Ungarn und hat sich zuletzt auch in Litauen und Lettland niedergelassen.

Der deutsche Adressen-Spezialist mediadress tritt im Nachbarland Polen, das unter den Neuen als vielversprechendster Markt gilt, sogar als Fullservice-Anbieter auf. Die dort 1991 begonnenen Initiativen mündeten 1994 in die Gründung der Tochter mediadress polonia in Skierniewice.

Auch der Lüneburger Drucklösungsanbieter und Dienstleister Datacolor verhandelt derzeit mit Letter-shops, um Joint Ventures im Bereich Daten-Management und Fulfillment anzustoßen. Die Auslagerung der Produktion ist zunächst nicht geplant. "Aber das kann sich schnell ändern", sagt Matthias Tritsch, Marketing- und Sales-Chef bei Datacolor. Der Fokus liegt bei Datacolor auf Polen, der Slowakei und Slowenien. "Dort werden in absehbarer Zeit die großen Versandhändler unter unseren Kunden aktiv werden", so Tritsch.

Skeptiker warten vorerst ab. Siegfried Scholz vom Scholz Versand Ser-vice beobachtet die Entwicklungen mit Distanz. "Verfrühter Aktionismus kann bei der Eroberung von Marktanteilen ein Nachteil sein, wie man am Beispiel des deutschen Ostens sieht." Auch Nils Ulrich, Geschäftsführer der Drei-D-Unternehmensgruppe, strebt von sich aus nicht außer Landes, aber: "Wenn sich unsere Kunden in diese Richtung ausweiten, werden wir reagieren."

Und die interessieren sich - neben Ungarn und Tschechien mit jeweils rund zehn Millionen Einwohnern - vor allem für Polen. Mit 38,8 Millionen Einwohnern und hohen Wachstumsraten im Direktmarketing steht der Ostsee-Anrainer meist ganz oben auf der Wunschliste expansionswilliger Unternehmen in Deutschland. Ein Wirtschaftswachstum von 3,8 Prozent lässt Händler mitunter über das jährliche Pro-Kopf-Einkommen von 5.169 Euro (2002) hinwegsehen. Die Swiss Post International wirbt mit Response-Quoten von acht Prozent und Preisen von zwölf Eurocent je Mailing für Kampagnen im benachbarten Osten. Mailings, Anzeigen und Beilagen werden zunehmend anerkannt. Immerhin 200 Millionen Mailings wurden 2002 in Polen verschickt. Der Anteil unadressierter Werbung lag 2002 bei zwei Dritteln gegenüber 83 Prozent in Tschechien (2000) und rund 90 Prozent in Ungarn.

Doch einige Faktoren stehen einem schnellen Aufschwung der Branche entgegen. Zum mangelhaften Adressenangebot kommt die unterentwickelte Infrastruktur und eine Mentalität, die so manchen potenziellen Händler abschreckt. Mittelosteuropäer gelten als Meister der Improvisation. "Landestypische Auffassungen über Ziele, Strategien, Motivation, Führung, aber auch über Höflichkeit, angemessenes Konfliktverhalten, Zeit, Verbindlichkeit von Verträgen und Vereinbarungen erweisen sich oft als schwer erkennbare Ursachen für Probleme", berichtet Bernd K. Zeutschel Geschäftsführer vom Global Competence Forum in Tübingen. mediadress-Geschäftsführer Andreas Kneiphoff: "Als Firma der ersten Stunde hat mediadress polonia viele Höhen und Tiefen durchlebt." Wichtig sei, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu kennen, sich auf andere Kulturen einzulassen und nicht nach dem ersten Fehlschlag aufzugeben.

Vorbehalte bestehen auch in puncto Datenschutz. "Manche Kunden haben nach wie vor Bedenken bezüglich der Datensicherheit und der Einhaltung der Datenschutzgesetze", berichtet Dr. Jürgen Wolf von GHP. Dabei seien diese mitunter strenger als die EU-Richtlinie. "Polnische Adressen dürfen zum Beispiel überhaupt nicht außerhalb Polens verarbeitet werden", sagt Sabine Wimmer, Vizepräsidentin International beim Deutschen Direktmarketing Verband (DDV).

Beim Porto fehlt es vor allem an einheitlichen Standards. Erst im März hat das polnische Parlament das Postmonopol von 2.000 Gramm auf bis zu 250 Gramm bei Briefsendungen und bis zu 500 Gramm bei Paketen gesenkt. Tarife für Massensendungen sind in Polen unbekannt. "Rabatte können ausgehandelt werden", sagt Wimmer. "Aber prinzipiell kostet ein Mailing genauso viel wie ein Brief an die Oma." Komplizierte Remailing-Regeln zwingen international agierende Unternehmen außerdem, ihren polnischen Response auch in Polen zu bearbeiten.

Echte Eroberer sehen freilich über solche Lappalien hinweg. "Schließlich entwickeln sich die Volkswirtschaften dort so schnell, dass mittelfristig ganz neue Absatzmärkte für unsere Produkte entstehen", sagt Wolf. Auch bei osteuropäischen Unternehmen würden Direktmarketing und Kundenorientierung an Bedeutung gewinnen, meint Christian Humm, Geschäftsleiter von Borek. Und Marketingchef Michael Mältzer von Schneidersöhne rechnet vor: "Der Pro-Kopf-Verbrauch an Papier und Verpackungen dieser Länder liegt bei 60 bis 80 Kilo pro Jahr - gegenüber 240 Kilo in Deutschland. Daran sieht man, dass diese Märkte uns einen enormen Zuwachs bringen werden." asc

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