29.08.2005 - Dialog im Bundestagswahlkampf: Die kurzfristig anberaumten Neuwahlen versetzen die Parteien in Interaktion - vor allem die kleinen.
Der Wahltag rückt näher, im Bundestagswahlkampf stehen die Zeichen auf Interaktion. Mehr denn je setzen die Parteien auf Dialog- und so genannte Mitmach-Aktionen - wenn auch nicht alle in gleichem Maße. "Der Trend zur direkten Wähleransprache ist überdeutlich, sagt Kerstin Plehwe, Vorsitzende der neu gegründeten Lobbying-Initiative ProDialog, die sich des Themas Politische Kommunikation angenommen hat. Während Grüne und Liberale auf Interaktion setzen, bieten die Sozialdemokraten viel Symbolisches. Eher konventionell gehen die Christdemokraten die Sache an.
Dabei fühlen sich 70 Prozent der deutschen Wähler durch die klassische Fernseh- und Plakatwerbung der Parteien nicht zum Urnengang motiviert, das fand das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap im Auftrag der Politikberaterin Plehwe heraus. Dennoch verschlingt die klassische Werbung wie seit je den Löwenanteil der Wahlkampfmittel. "Im Budget steht der Dialog in Deutschland bislang an fünfter oder sechster Stelle", sagt Kerstin Plehwe. Etwa ein Prozent ihrer Budgets geben die Volksparteien für die Online-Werbung aus. Zum Vergleich: In US-Wahlkämpfen fließt der zweitgrößte Posten in die direkte Wähleransprache. Nach oben hin scheint noch vieles offen zu sein.
Und das gilt anscheinend auch für die Qualität: Im Internet findet sich bisher viel Bewährtes und nur in Ausnahmen Innovatives: Kandidatenporträts, digitale Wahlkampfreden und Mutmacher-News für die Basis dominieren den Content. Broschüren und Prospekte, die sonst in den Fußgängerzonen der Republik verteilt werden, gibt es nun auch digital. Dass das Web den klassischen Instrumenten irgendwann den Rang abläuft, bezweifelt vor allem die Union: "Auf diesen Wahlkampf werden wir noch eine ganze Weile warten müssen", sagt Marketingleiter Stefan Hennewig. Die CDU scheint das Thema auch sonst nicht allzu hoch zu hängen. Vorreiter beim Dialog sind die kleinen Parteien. Gegenüber den komplexen Mitgliederorganisationen der Volksparteien kommen die Kleinen in puncto Kampagnen schneller zum Konsens.
Vorreiter beim Dialog mit dem Bürger sind die kleinen Parteien - Direktmarketing und politische Kaltakquise haben auch ihre Tücken Auch finanziell zahlt sich die Strategie aus. "Im Idealfall gibt man nur den Anstoß, der Rest läuft per Schneeballeffekt", sagt die politische Bundesgeschäftsführerin von Bündnis90/Die Grünen, Steffi Lemke. FDP-Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Beerfeltz ist ohnehin überzeugt, dass die Partei gewinnt, die den direkten Draht zum Wähler hat. "Gerade für individualistisch orientierte Parteien ist es wichtig, auf den Einzelnen zuzugehen", berichtet Beerfeltz. So spielen Anzeigen für die Liberalen fast keine Rolle, TV-Spots gibt´s nur kostenlos bei den öffentlich-rechtlichen Sendern und im Kino. "Wir investieren seit langem am meisten ins Internet", berichtet Beerfeltz. Mailings (Postwurfsendungen) und Internet haben bei den Liberalen etwa 20 Prozent Anteil am Budget. Ihr "Portal Liberal" (www.liberale.de) verwandelte die Partei in ein Nachrichtenportal mit Infos zum Wahlkampf und Kandidaten der FDP sowie den Themen-Channels News, Kampagnen, Community, Bildung und Service. "Wir haben darüber mehr Response und Page-Views als SPD und CDU", so der Wahlkampfleiter. Der Clou: Liberale Spender können bei der FDP über Plakatentwürfe abstimmen. Dafür bekommen die User Zugang zu einem geschützten Online-Bereich, wo sie die Entwürfe besichtigen und auswählen können.
Wahlkampf als Mitmach-Aktion
Die Grünen haben gleich ihre gesamte Kampagne unter das aktive Motto "Mach mit!" gestellt. "Wir werden das Internet so konsequent nutzen, wie das noch nie eine Partei in Deutschland gemacht hat", betont Bernd Heusinger, Chef der Agentur Die Goldenen Hirschen, die den Wahlkampf der Grünen betreut. Dies ist umso effizienter, als die vermeintlich technikfeindlichen Grünen offenbar äußerst Internet-affine Anhänger haben. Diese finden auf der Website ihrer Partei zum Beispiel Unterstützerlisten für Petitionen, wo sich User mit ID eintragen und anschließend ein eigenes Web-Forum erhalten. "Interaktivität und Dezentralität sind ein Ausdruck unserer basisdemokratischen Tradition und eine grüne Spezialität", sagt Steffi Lemke.
Erstmals wirkte die Web-Community in diesem Jahr sogar am grünen Wahlprogramm mit: Innerhalb der Online-Enzyklopädie Wikipedia wurde dafür eigens für den Wahlkampf ein Wiki-Forum eröffnet, in dem jeder an der Partei-Agenda zum Thema Digitale Gesellschaft mitschreiben durfte. Bis zum 4. Juni hatten 453 registrierte NutzerInnen am ersten "Polit-Wiki" mitgeschrieben - und den geplanten Umfang des Kapitels im Wahlprogramm von 7.000 auf 14.000 Zeichen verdoppelt,.
Traditionelle Formate in der Krise
Auch die Sozialdemokraten entwickeln Ehrgeiz bei der Nutzung neuer Kommunikationsformen. "Am traditionellen Stand rennen die Leute vorbei", berichtet face2.net-Geschäftsführer Dietrich Boelter, der für die SPD den Internet-Wahlkampf führt. Neue Instrumente helfen deshalb nicht zuletzt den Wahlkämpfern selbst, die sich mit den neuen Medien einfach "besser ausgestattet" fühlen, so Boelter. Innovativstes Tool ist die "Rote Box", mit der die SPD das Internet in den öffentlichen Raum hinein verlängern will. Bei dem crossmedialen Projekt setzen sich Passanten in mehreren deutschen Städten in einen Automaten, der sie beim Aufsagen ihrer persönlichen Botschaften filmt. Die 30-Sekunden-Spots sind - freilich nach sorgsamer Vorauswahl - ab Mitte August auf SPD.de zu sehen. Ebenfalls Mitte August startete die SPD unter SPD-podcast.de ihrPodcast-Angebot zum Downloadenvon MP3-Dateien. Der Content: Müntefering im Originalton.
Neues Hype-Format ist bei allen Parteien das Weblog. Bloggen hat sich im Wahlkampf quasi über Nacht zum Standard entwickelt: Prominente Kandidaten und Abgeordnete bloggen, was das Zeug hält, allen voran die grüne Führungsspitze. Nur die Union hält sich bei diesem Thema zurück. Laut Wahlkampfleiter Volker Kauder vor allem deshalb, weil das Format viel Betreuung verlangt: Das Bloggen kranke daran, dass "kein Spitzenpolitiker sein Weblog selber schreibt". Es sei denn, man verzichtet auf einen Teil der Kontrolle. So richtet die SPD auf Roteblogs.de jedem Unterstützer ein eigenes Wahl-Blog ein. Ein kultureller Wandel, beobachtet Boelter. "Man setzt stärker auf die Vernunft der Akteure und lässt diese gewähren.
Mit härteren Bandagen als in den Massenmedien mobilisieren die Volksparteien im Internet mittels Negative-Campaigning: Anfang August stellte Volker Kauder sein Projekt Leere-versprechen.de vor, auf der die Betreiber mehr oder weniger bissig SPD-Zitate kommentieren. Auf Die-falsche-Wahl.de prangern Sozialdemokraten dagegen das Wahlprogramm der Union an. Wenn es ganz schnell gehen muss, reagieren die Parteien auf ihren Rapid- Response-Seiten Wahlfakten.de oder Merkel-tv.de auf Patzer und Versprecher des politischen Gegners. Auffällig hält sich dabei die Linkspartei/PDS zurück - in der Hoffnung, von der Krise der Regierungsparteien zu profitieren: Frustrierte SPD- und Grüne-Wähler werden online mit positiven "Ich-will-Botschaften" angesprochen - und können diese individuell auf der PDS-Site platzieren.
Natürlich findet der Wahlkampf auch in der wirklichen Welt statt und dies nicht nur im Straßenwahlkampf, der für alle Parteien traditionell einen hohen Stellenwert hat. "Da gibt es durchaus Ansätze zum Micro Targeting - etwa Zielgruppen-Mailings an Erstwähler oder Rentner", berichtet Kerstin Plehwe. "Die Hauptrolle spielen dabei einzelne Aktionen auf Kandidaten-ebene, etwa im lokalen Wahlkreis."
Die Adressenbasis für Direktmarketing in Deutschland wird als problematisch eingeschätzt. "Das ist für Parteien ein heikles Thema, man muss da viel Sicherheit schaffen", sagt Boelter. So hatte sich die Kölner CDU erst 2002 medienwirksam unbeliebt gemacht, indem sie amtliche Wählerverzeichnisse - angereichert um zugekaufte Informationen - für DM-Aktionen nutzte. "In den USA gibt es für Direkt- und Telemarketing eine andere Datenbasis", sagt Claudia Gohe, PDS. "Der Einkauf solcher Ressourcen ist hier einfach unerschwinglich und die Umsetzung der Kampagnen viel zu aufwändig."
Zudem gilt politische Kaltakquise gemeinhin als nutzlos, wenn nicht gar als schädlich. Telemarketing etwa lehnt der FDP-Geschäftsführer "kategorisch ab", wie übrigens jede Form von unangeforderter Polit-Werbung. Erst allmählich beginnen die Parteien, bei Veranstaltungen auch eigene Adressen zu sammeln. Vom klassischen Direktmarketing macht vor allem die FDP Gebrauch. Die Liberalen schreiben unmittelbar vor der Wahl nachSinus-Milieus selektierte Haushalte per Postwurfsendung an. Die PDS plant dies in ihren fünf potenziellen Direktwahlkreisen. Aktionsbezogen verschicken dieLiberalen sogar mehrstufige Werbebriefe an ihre Klientel. "Sie können natürlich nicht einfach Zahnärzte anschreiben und sagen `Wir sind die Partei der Zahnärzte`", erklärt Beerfeltz.
Mailings mobilisieren
Stattdessen lädt die FDP ihre Zahnärzte zu gesundheitspolitischen Kongressen ein. Und erklärt bei der Gelegenheit, dass man mit einer 50-Euro-Spende ein Plakat direkt vor dem Büro der Gesundheitsministerin unterstützen kann. Dass direkte Wähleransprache künftig an Bedeutung und Budget gewinnt, steht für die Insider außer Frage. "Auch die deutschen Gesetze eröffnen viele Möglichkeiten, Adressen zu generieren und Bürger zu informieren", meint Kerstin Plehwe. Letztlich stünden Parteien bei der Wahrnehmung auch im Wettbewerb mit Unternehmen, meint Beerfeltz. "Es geht nicht an, dass die Bürger mehr Dialog wegen ihrer neuen Kaffeemaschine führen als mit ihrem direkt gewählten Abgeordneten." asc
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